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KOKO#0 Liebe Grüße aus Eisenbahnstraße
Prolog von Makoto Okajima


KOKO ist ein Newsletter-Projekt, das versucht die aktuelle Dynamik im Leipziger Osten durch Lebensgeschichten, persönliche Erinnerungen und Emotionen von Bewohnern zu dokumentieren.
Schauplatz ist die Eisenbahnstraße in Leipzig, die einst von den Medien als „die gefährlichste Straße Deutschlands“ betitelt wurde. In den letzten 15 Jahren hat sich die Straße durch den Zuzug junger Menschen und Migrant:innen wegen der günstigen Mieten in eine lebendige Gegend verwandelt. Gleichzeitig sieht sie sich jedoch mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, wie Alkohol- und Drogenproblemen. In den letzten zwei Jahren setzte auch hier die Gentrifizierung spürbar ein. Steigende Mieten verdrängen einkommensschwache Bewohner:innen, soziokulturelle Projekte und Künstler.
Makoto Okajima, Kuratorin und Redakteurin von KOKO, lädt alle interessierten Leser auf eine Reise durch die Eisenbahnstraße ein. Die Reise beginnt.
Von „schönster Bahnhof“ zur „gefährlichsten Straße“
Am Leipziger Hauptbahnhof erwartet die Reisenden ein altes, prachtvolles Bahnhofsgebäude. Der 1915 erbaute Bahnhof gilt als einer der „schönsten Bahnhöfe der Welt“. In der Innenstadt reihen sich historische Gebäude wie das Alte Rathaus, die alte Börse oder das Café Riquet aneinander. Leipzig, eine Stadt mit einer bedeutenden Geschichte, ist bekannt für ihre Verbindung zu Musikern wie Bach und Mendelssohn oder Dichtern wie Goethe. Außerdem war Leipzig der Ausgangspunkt der Friedlichen Revolution, die zum Fall der Mauer führte.


Doch statt all diese bekannten, touristischen Sehenswürdigkeiten zu besuchen, kann man auch in die Straßenbahnlinie 1 oder 3 steigen und in den Osten der Stadt fahren. Schon zu Beginn fällt der hohe Anteil ausländischer Fahrgäste auf. Nach den typischen, perfekt sanierten Gebäuden aus der Gründerzeit rund um den Hauptbahnhof, tauchen ab der Eisenbahnstraße belebte arabische und türkische Geschäfte oder Märkte auf. Noch nicht viele Gebäude sind saniert, bunte Graffiti ist überall zu entdecken. Der Blick aus dem Straßenbahnfenster zeigt eine lebhafte Stadtkulisse. Das ist die Eisenbahnstraße, der Schauplatz des Projekts KOKO.

Die Eisenbahnstraße – eine Straße mit einzigartiger Vielfalt
Als ich die Eisenbahnstraße zum ersten Mal besuchte, war ich Touristin. Die Straße wurde von einem Fernsehsender einmal als "gefährlichste Straße Deutschlands" bezeichnet, da sie von Migranten, Flüchtlingen und Menschen mit geringem Einkommen bewohnt wird und es ständig Probleme mit Gang-Kämpfen, Diebstahl, Brandstiftung, Drogen und Alkohol gab, wie in so vielen größeren Städten der Welt.
Andererseits zogen die niedrigen Mieten motivierte junge Leute und Migranten an, die auf der Suche nach günstigen Räumen waren. So entstanden Kunstgalerien, soziokulturelle Projekte, Lebensmittelläden, Tattoo-Studios, Räume für Kinder und Selbsthilfe-Organisationen uvm. Die Eisenbahnstraße hat sich zu einem der lebendigsten Stadtteile im Leipziger Osten entwickelt. Menschen aller Nationalitäten, Erwachsene, Kinder und Senioren leben hier, und wenn man durch die Straßen geht, hört man Arabisch, Russisch, Farsi, Vietnamesisch, Koreanisch, Japanisch, Türkisch, Englisch und viele andere Sprachen. Die Dynamik der Stadt hat mich begeistert und ich beschloss, wenn ich nach Leipzig ziehe, dann bitte in die Nähe der Eisenbahnstraße.

Natürlich wird einem die Realität der Stadt erst bewusst, wenn man tatsächlich in ihr lebt. Die Mischung verschiedener Kulturen, unterschiedlicher Nationalitäten und Ethnien führt unweigerlich zu Konflikten und Spaltungen. Die Polizei wird damit täglich konfrontiert, es kommt zu Schlägereien auf der Straße, manchmal zu Straßenblockaden und ab und an brennen auch Mülltonnen. Schilder mit der Aufschrift "Waffen verboten" stehen noch immer in der Straße, seit es hier einmal einen Toten während einer Auseinandersetzung von Rocker-Gangs gab.
In den letzten zwei bis drei Jahren ist es ruhiger in der Eisenbahnstraße geworden. Der auch hier beginnende Wandel hat zu einem Anstieg der Immobilienpreise geführt. Wie in vielen anderen größeren Städten hat hier ebenfalls die Gentrifizierung eingesetzt, bei der Menschen aus einkommensschwachen Gruppen und niedrigschwellige Projekte, die das Gebiet durch ihre kreativen Aktivitäten bereichern, verdrängt werden. Die Straße befindet sich derzeit im Umbruch.

Die Stimmen der Straße wahrnehmen
In der sich rasant verändernden Eisenbahnstraße leben die Menschen in ihrem eigenen Rhythmus. Sie haben unterschiedliche Gründe hier zu sein, sei es, weil es ihnen gefällt, weil sie einfach zu bequem sind woanders hinzugehen oder weil sie einfach ein Zuhause brauchen. Aber im Grunde sagen sie alle das Gleiche: die Stadt und die Menschen verändern sich, aber die Menschen leben trotzdem weiter ihr Leben hier. Wenn wir die Geschichten dieser Menschen sammeln und bewahren, entsteht ein einzigartiges Archiv dieser Straße. Deswegen begannen wir Interviews mit den Menschen aus diesem Viertel zu führen.
Aber als wir anfingen merkten wir sehr schnell, dass die Stimmen der Menschen hier nackt und zerbrechlich waren. In diesem Viertel gibt es zahlreiche Menschen, die mit Problemen wie Arbeitslosigkeit, finanzieller Unsicherheit, Alkohol- oder Drogenabhängigkeit, Aufenthaltsstatus oder psychischen und körperlichen Herausforderungen zu kämpfen haben. Während einige gut sprechen und schreiben können und dadurch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sind andere nicht in der Lage, ihre Worte richtig zu formulieren oder ihre Gedanken klar zu fassen. Zudem ist es für viele Migrant:innen schwierig, sich nicht in ihrer Muttersprache, sondern in Deutsch oder Englisch auszudrücken. Deswegen ziehen es viele vor zu Schweigen.
Je mehr wir von diesen ungeschminkten und ehrlichen Geschichten hörten, desto größer wurde unser Wunsch, diese Leben weiterzuerzählen. Doch uns wurde auch klar, dass es genauso wichtig ist, diesen Geschichten aufmerksam zuzuhören. Wir erkannten auch, dass das Erzählen selbst ein gemeinsamer Prozess zwischen dem Erzähler und dem Zuhörer ist. Also befragten wir auch Menschen, deren „Arbeit“ das Zuhören ist, und fragten sie, wie man diesen Geschichten aufrichtig und respektvoll zuhören kann.
Der Newsletter verbindet daher Interviews von Erzählern und Zuhörern. Denn genau das wollen wir mit dem Projekt KOKO erreichen: die Geschichten der Menschen im Hier und Jetzt mit Respekt weitergeben.

KOKO ist japanisch und hat verschiedene Bedeutungen: hier, individuell, an diesem Punkt, entscheidender Moment, etc. Die Stimmen der Straße, die von den großen Medien selten aufgegriffen werden, die persönlichen Emotionen, die in den Ritzen der Stadt lebendig sind - all das scheint auf den ersten Blick zufällig und unzusammenhängend verstreut. Und doch fügen sich diese Fragmente unmerklich zu einer eigenen Welt zusammen. Genau das ist KOKO. Hier.
Der Newsletter, den wir Ihnen hier präsentieren, erzählt Geschichten von Leipzig und den Menschen, die hier leben. Er zeigt die Dynamik dieser Stadt durch die Geschichten ihrer Bewohner. Achten sie darauf, wenn sie irgendwann durch die Eisenbahnstraße gehen. Wir wünschen Ihnen viel Spaß mit diesem Newsletter!
KOKO
Herausgeber : SEA SONS PRESS
Kuratieren und Editieren : Makoto Okajima
Illustration und Comic : Asuka Okajima
Foto : Sobamichi Sawaki
Deutsches Lektorat: Jens Hendrysiak
Herzlichen Dank an:
Martin, Karel, G, Mayuko, Tobias, Bruno, Gabriella, Alisa, Karim, Goro, Karam, Melisa, Nora, Anja, Marisa, Gisela, Jens, Keiko, Miho, Kei, Masaru, Teilnehmenden und Professoren des Masterstudiengangs “Kulturen des Kuratorischen” an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, Anji, Asuka, und DICH.