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KOKO#1 Ein Zwischenstopp im Leben

Interview mit Martin

Einst als "gefährlichste Straße Deutschlands" bezeichnet, hat sich die Eisenbahnstraße in Leipzig zu einer lebendigen Straße entwickelt. Während sich die Stadt rasant verändert, gibt es Menschen, die in ihrem eigenen Tempo und mit einer gewissen Gelassenheit ihren Weg gehen.

In der ersten Folge treffen wir Martin, einen Musikproduzenten. Er hat seine Jugend vor dem Mauerfall in West-Berlin verbracht und ist durch die ganze Welt gereist. Die Stadt, in der er jetzt lebt, ist für ihn nur ein weiterer „Zwischenstopp“.

“Ich habe jahrelang quasi ein mobiles Dasein geführt. Ich hatte zwei Koffer: ein Koffer war der Bürokoffer, der andere Koffer war der private Koffer. Wenn es kälter wurde, tauschte ich die Kleidung gegen wärmere Kleidung und wenn es wieder wärmer wurde, wurden die warmen Sachen wieder ins Lager bis zum nächsten Halbjahreswechsel gebracht. Das Leben mit zwei Koffern war äusserst flexibel und hatte die Beweglichkeit auch im Kopf gefördert.”

Martin (Jahrgang 1967) verbrachte bereits die Kindheit und Jugend an vielen unterschiedlichen Orten in West-Deutschland, Frankreich und Italien. Ab zwei Jahren in West-Berlin, der seiner Zeit wohl spannendsten Stadt im geteilten Deutschland, hatte ihn Berlin massgeblich geprägt:

"Wenn du jünger bist, hat eine Großstadt einen großen Einfluss auf dein Verständnis von der Welt. West-Berlin und die gelegentlichen Besuche in Ost-Berlin der Hauptstadt der DDR, war ein besonderer Eindruck der damals geteilten Welt in Ost und West."

Aber vor allem in den 90er Jahren, nach der sogenannten Wiedervereinigung im Jahr 1989, war Berlin in etwa wie ein großer `Abenteuerspielplatz´. Vor allem im Ostteil der Stadt. Es gab immer etwas Neues zu entdecken und die Freiräume waren quasi unendlich. Viele junge Leute haben ihrer Kreativität freien Lauf gelassen und fast überall in der vormaligen Hauptstadt der DDR entstanden „alternative“ Orte, an denen sich eine bunte Sub-Kultur eine eigene Bühne schaffen konnte.

Es kamen immer mehr kreative Menschen aus der ganzen Welt in die Stadt und Berlin entwickelte sich in den 90er Jahren zu einer Art „Metropole“ alternativer oder sub-kultureller Lebensart. Neben dem ohnehin äusserst vielseitgen Nacht- und Kulturleben von West-Berlin, brachte nun vor allem der „wilde Osten“ vor allem die Techno-Szene hervor, wie diese eine weltweite Anziehung ausübte, die bis heute anhält.

Ab dem Jahr 2000 war Martin dann selbst aktiv in der Kultur- und Musikszene tätig und begründete mit seinem Label „Ciganomania“ (2000-2005) als Musikagent, Veranstalter, Produzent und DJ, vor allem einen Beitrag für Kultur und Musik aus Ost-Europa und den Balkanländern.

Gegen Ende des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend machte sich Martin wieder auf neue Wege und verbrachte fast zehn Jahre im Pendelbetrieb zwischen Berlin und vielen Städten in Süd-Europa und bis an die Küsten Nord-Afrikas. Nach einem gescheiterten Anlauf in Tunesien mehr Fuss zu fassen, musste er wieder nach Deutschland zurückkehren, war jedoch unschlüssig, welche Stadt genügend Interessantes zu bieten hätte, sagt Martin:

"Ich hatte keine Lust mehr auf Berlin, ich war schon zu lange und erschöpfend dort gewesen. Und für die Suche nach einer neuen Stadt gab es für mich drei Faktoren: einigermaßen groß, einigermaßen bezahlbar und ein einigermaßen interessantes kulturelles und soziales Umfeld. Dann habe ich systematisch gesucht und bin schliesslich auf Leipzig, als einer von zwei interessanteren Städten gestoßen. Schliesslich kam ich 2017 nach Leipzig."

Martin erinnert sich noch genau an die Zeit, als er in den Vierteln der Stadt nach seinem neune Wohnumfeld Ausschau gehalten hat, erzählt Martin weiter:

"Die Gebäude waren noch saniert wie heute. Die Gründerzeithäuser mit ihrem abfallenden Hausputz waren noch DDR-Altbestand. Auch an das orange Licht der Straßenlaternen erinnere ich mich. Es war so, als würde ich eine Zeitreise über 25 Jahre zurück machen, als ich Anfang der 90er Jahre in Ost-Berlin meine erste eigene Wohnung begründete."

Er erwähnt den Begriff ‘Kiez’, um den Eindruck seines neuen Wohnumfeldes von Leipzig zu beschreiben, die ihn an Berlin der 90er Jahre erinnerte. Ein Kiez ist das nähere und unmittelbare Umfeld der weiteren Nachbarschaft, die in wenigen Minuten erreichbar ist. Also ein kleinerer Bereich eines Stadtviertels.

"Selbst die größten Städte haben ihre `Kieze´. Du kennst mehr oder weniger die Nachbarn und den Händler im kleinen Laden um die Ecke, du gehst meistens in die gleichen Cafés oder in die Bücherei ....So schaffst du dir deine vertraute Welt, in gewisser Weise wie ein Dorf, auf und es entsteht ein soziales Miteinander."

In Leipzig gibt es viele verschiedene dieser Nachbarschaften in den verschiedenen Vierteln. Doch auch in Leipzig setzt, wie zuvor bereits im ehemaligen Ost-Berlin, auch in vielen Städten der vormaligen DDR, nun die sogenannte `Gentrifizierung´ ein. Martin hat in letzter Zeit viel darüber nachgedacht, wohin er als Nächstes gehen könnte, während er die sich verändernde Stadt beobachtet. Er sagt:

"Egal ob hier wirklich mein Viertel ist, habe ich die Gewohnheit, immer wider woanders hinzugehen, wenn ein Ort weniger Interessantes zu bieten hat. Ich habe mal in einem Artikel gelesen, dass die Eisenbahnstraße wohl mal der Nahbereich zu einem Güterbahnhof war, an dem die Züge ankommen und abfahren., bevor die Güter zu anderen Orten weitertransportiert werden. Hier gibt es weniger die Beständigkeit einer über längere Zeit gewachsenen Nachbarschaft. Wahrscheinlich wird für mich Leipzig wohl (auch) nur ein Zwischenstopp im Leben bleiben."