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KOKO#10 Der Erforscher der kleinen Sprachen
Interview mit Goro Christoph Kimura

#10 Der Erforscher der kleinen Sprachen
Interview mit Goro Christoph Kimura

KOKO ist ein Newsletter-Projekt, das versucht, die aktuelle Dynamik im Leipziger Osten durch Lebensgeschichten, persönliche Erinnerungen und Emotionen der Bewohner zu dokumentieren. Während wir die Geschichten auf der Eisenbahnstraße sammelten, befragten wir auch Menschen, deren „Arbeit“ das Zuhören ist, und fragten sie, wie man diesen Geschichten aufrichtig und respektvoll zuhören kann.
Diesmal sprechen wir mit dem Soziolinguisten Goro Christoph Kimura, der seit vielen Jahren über die Sorben, eine kleines slavisches Volk vor allem in Sachsen und Brandenburg im Osten Deutschlands beheimatet ist, forscht. Obwohl die Sorben in ihrer langen Geschichte Diskriminierung und zeitweilige Unterdrückung erfahren haben, haben sie ihre Sprache, Kultur und Identität als Sorben bis heute bewahrt.
Kimura beobachtet, wie die sorbische Sprache in diesen Regionen verwendet wird, und erforscht, wie Menschen sich weltweit für den Erhalt von Minderheiten- und vom Aussterben bedrohten Sprachen einsetzen. Sein Blick auf die Welt durch verschiedene Sprache – von Sorbisch über Esperanto bis zur Gebärdensprache – gibt uns wertvolle Impulse dafür, wie wir auch den Stimmen auf der Eisenbahnstraße mit mehr Aufmerksamkeit begegnen können.
── Was bedeutet eigentlich dein Fachgebiet "Soziolinguistik"?
Wenn wir "sprechen", tun wir dies in der Absicht, unsere Gedanken durch Worte zu vermitteln. In Wirklichkeit vermitteln wir aber nicht nur Gedanken, sondern schaffen durch Worte auch Beziehungen. Die Soziolinguistik beschäftigt sich mit der Sprache, aber nicht nur mit dem Inhalt der Worte, sondern auch damit, wie die Worte den Menschen vermittelt werden und wie dadurch Beziehungen entstehen.
Ich interessiere mich besonders für die Vielfalt der Sprachen. Wenn die Rolle der Sprache nur darin bestünde, Informationen zu vermitteln, dann wäre es einfacher, wenn es nur eine Sprache auf der Welt gäbe und alle auf die gleiche Weise sprechen würden. Aber verschiedene Menschen sprechen auf verschiedene Weise, und die Art, wie wir sprechen, zeigt unsere Individualität und unsere Nähe und Distanz zu anderen. Wir sehen darin einen Ausdruck dessen, wer wir sind und welche Art von Beziehung wir aufbauen wollen. Durch die Betrachtung von Sprache möchte ich darüber nachdenken, wie das entsteht, was wir Gesellfschaft oder Gemeinschaft nennen.
Lessing schrieb: “Worte sind Luft, aber die Luft wird zum Wind, und Wind macht die Schiffe segeln." Wenn Menschen eine Sprache sprechen, atmen sie einfach Luft ein und bringen Laute aus ihrem Mund hervor. Doch können wir unsere Gefühle durch Sprache ausdrücken, und wir können Gruppen und Gesellschaften bilden, indem wir uns mit anderen verbinden oder trennen. Ich finde das sehr faszinierend und interessiere mich sehr für die Rolle der Sprache.
── Wie hast du mit der Erforschung der sorbischen Sprache begonnen?
Meine Mutter ist Deutsche und mein Vater Japaner. Ich bin also in Japan in einer Situation aufgewachsen, in der die Sprache und die Kultur innerhalb und außerhalb der Familie unterschiedlich waren: Zu Hause wurde Deutsch gesprochen, außerhalb Japanisch. Es war einerseits anstrengend, aber andererseits war es auch interessant, eine andere Welt kennen zu lernen.
Erst im Studium lernte ich die Sorben kennen, ein kleines Volk in Deutschland. Es gibt nur etwa 50.000 Sorben und sie benutzen zu Hause und außerhalb des Hauses unterschiedliche Sprachen, genauso wie ich. Mich interessierte, wie ihr Leben aussieht, warum das Sorbisch nicht ausgestorben ist und warum und wie sie ihre Sprache und Kultur bewahren wollen.
── Wie genau hast du die sorbische Sprache erforscht?
Bei mir waren es drei Phasen. Erstens: Als ich meine Bachelorarbeit geschrieben habe, konnte ich noch nicht so gut Sorbisch, also habe ich recherchiert wie die sorbischen Schulen entstanden sind und wie sie sich verändert haben, indem ich sorbische Literatur mit Wörterbuch gelesen habe. So habe ich zum Beispiel erfahren welche Fächer auf Deutsch und welche auf Sorbisch unterrichtet wurden, wie sich das im Laufe der Zeit änderte, wer auf sorbische Schulen ging und wie man versuchte, auch Deutschsprachigen Sorbisch zu vermitteln. Es gab viele Möglichkeiten, Meinungen und Diskussionen, die ich zusammengefasst habe.
Zweitens: In meiner anschließenden Masterarbeit konzentrierte ich mich auf die stark katholisch geprägten Gebiete des sorbischen Sprachraums, vor allem in Sachsen, und untersuchte den Zusammenhang zwischen dem christlichen Glauben der Sorben und dem Spracherhalt. Da ich inzwischen ein wenig Sorbisch sprechen konnte, habe ich einflussreiche Personen und Pfarrer in der Region interviewt, um herauszufinden, wie sie über den Umgang mit der sorbischen Sprache denken.
Drittens: Für meine Doktorarbeit habe ich einige Monate in einem sorbischen Dorf gelebt, um zu untersuchen, wer wo welche Sprache spricht und wie das aufgefasst wird. Der Fachbegriff in der Sprachwissenschaft lautet 'Sprachmanagement' und ich habe mir angeschaut, wie mehrsprachige Alltagssprecher mit ihrer eigenen Sprache umgehen und von da aus untersucht, was es für sie bedeutet, die sorbische Sprache zu verwenden.
Die damalige Forschungsmethode bestand darin, im Dorf zu leben und zu beobachten, wie die Menschen dort leben. Ich verbrachte viel Zeit mit verschiedenen Dorfbewohnern, ging in Kneipen, Jugendclubs, zu Versammlungen und überall dorthin, wo sich Menschen im Dorf trafen. Die Interviews wurden nicht geführt, indem ich vorher Fragen vorbereitet habe, sondern indem ich während des Small Talks verschiedene Fragen gestellt habe. Durch formale Interviews bekam man oft nur formelle Antworten. Deshalb habe ich versucht, die Menschen eher beiläufig zu ihrem Alltag zu befragen.

── Wie hast du im Laufe deiner Teilnehmenden Beobachtung deine "Zuhörfähigkeiten" entwickelt?
Ich habe besonders darauf geachtet, dass ich als Forscher auch ein Element bin, das die Situation hervorbringt. Mit anderen Worten, als Interviewer oder Beobachter betrachte ich den Ort nicht als unsichtbare Person, sondern bin mir bewusst, dass die andere Person wegen mir so reagiert oder dass sich die Situation in irgendeiner Weise verändert, weil ich hier bin. So werde ich Teil der Szenerie.
Der Fachbegriff lautet "aktives Interview". Damit ist gemeint, dass es illusorisch ist, in einem Interview herauszufinden, was die Person ursprünglich im Kopf hatte; vielmehr wird die Person nur antworten, wenn eine gegenseitige Beziehung zum Interviewer besteht. Deshalb habe ich versucht, Daten zu sammeln, die die Art der Situationen, in denen ich mich befand, und die Art, wie ich ihnen zuhörte, beinhalten. Wenn ich meine Notizen schreibe, versuche ich auch, sie so zu schreiben, dass die eigene soziale Existenz als Zuhörer erwähnt wird. Wenn ich mir also anschaue, was ich geschrieben habe, kann ich sehen, wie, mit wem und wo ich die Interviews geführt habe.
── Genau deine Haltung als Interviewer scheint uns das zu verkörpern, was KOKO braucht. Eine der Herausforderungen, mit denen wir bei unseren Interviews in der Eisenbahnstraße konfrontiert waren, war die Tatsache, dass wir unsere Gespräche oft nicht in der jeweiligen Muttersprache der Interviewten führen konnten. Die eigene Lebensgeschichte in einer Fremdsprache zu erzählen – sich also nicht in der Sprache auszudrücken, in der man denkt und fühlt – kann mit viel Unsicherheit und Stress verbunden sein. Gleichzeitig hat die Globalisierung dazu geführt, dass in Ländern, in denen Englisch nicht die Muttersprache ist, Englisch gesprochen wird. Doch bringt diese Entwicklung nicht auch gewisse Nachteile mit sich?
Ich glaube, dass Englisch eine Sprache ist, die sehr stark mit der englischsprachigen Welt verbunden ist. Wenn man sich also nur auf englischsprachige Informationen verlässt, um sich der Welt zu öffnen, verengt man seinen Blick auf die Welt. Wenn wir uns zum Beispiel in Japan ausländische Nachrichten ansehen, werden die meisten von englischsprachigen Nachrichtenagenturen veröffentlicht, was bedeutet, dass wir die Welt aus der Perspektive des englisch-sprachigen Raumes präsentiert bekommen. Indem wir Informationen über die arabische und asiatische Welt durch Nachrichten aus englischsprachigen Ländern erhalten, glauben wir, andere Teile der Welt zu verstehen. Ich denke aber, wir sollten nicht vergessen, dass Englisch auch eine Sprache mit bestimmten Werten und Weltanschauungen ist.
Das gilt auch für meine Erfahrungen in der Sorbenforschung: Wenn man Literatur liest, die zweisprachig sorbisch und deutsch geschrieben ist, dann sagt sie in beiden Sprachen unterschiedliche Dinge. Die Deutschen merken das aber nicht, weil sie nur den deutschen Teil lesen. Und wenn man sich die Moderationstexte eines sorbischen Dorffestes anschaut, dann sieht man, dass die auch in Deutsch und Sorbisch geschrieben sind, aber mit unterschiedlichen Inhalten, weil es für die Sorben uninteressant ist, zweimal das Gleiche zu hören, auf Sorbisch und auf Deutsch. Ich glaube, es birgt eine gewisse Gefahr, sich nur auf Informationen in einer Mehrheitssprache zu verlassen. Deshalb ist es wichtig, die Grenzen zu kennen, wenn man Englisch oder - im Fall der Sorben - Deutsch verwendet.

── Wir haben die Erfahrung gemacht, dass wir in Deutschland, wo wir Deutsch statt Englisch gesprochen haben, engere Beziehungen zu den Leuten dort aufbauen konnten. Warum ist das so?
Egal, wie gut man Englisch spricht, für jemanden dessen Muttersprache nicht Englisch ist, wird es unweigerlich eine andere Sprache und ein anderer Ausdruck sein als die Art und Weise, wie man normalerweise spricht. An diesem Punkt gibt es bereits eine große Differenz zur lokalen Sprache und ich denke das ist der Sinn des Erlernens der Muttersprache der anderen Person. Nehmen wir zum Beispiel einen Ausländer, der nach Japan gekommen ist. Wenn wir immer auf Englisch sprechen, weil wir denken, dass es für ihn leichter wäre, auf Englisch zu sprechen, könnte dies für ihn ein Hindernis sein, sich in der japanischen Gesellschaft zu integrieren.
Deshalb halte ich es für sinnvoll, aus Respekt vor dem Anderen, die lokale Sprache zu verwenden. Im Grunde genommen würde sich jeder Mensch freuen, wenn man sich für ihn und seine Kultur interessiert. Je mehr es sich um eine Minderheitensprache handelt und je schwieriger es für die Menschen ist, die Sprache zu lernen, desto mehr freuen sie sich und kümmern sich um die Menschen, die sie lernen.
Mit Englisch wird man nicht gelobt, mit Deutsch sind einige Leute erfreut, aber mit Sorbisch ist es anders; die Sorben freuen sich sehr und man wird sehr offen empfangen, wenn man in der sorbischen Region ist. Ich denke also, dass das Erlernen einer kleinen Sprache eine großartige Möglichkeit ist, starke Beziehungen zu knüpfen und menschlich sehr viel dazu zu gewinnen. Es gibt andere Welten und Perspektiven, die man sehen kann, wenn man verschiedene Sprachen lernt, anstatt sich nur auf Englisch oder andere große Sprachen zu verlassen.
── Wenn man in die Welt der Minderheitensprachen eintaucht, entdeckt man eine Fülle an Erfahrungen und Bedeutungen, die von außen oft unsichtbar bleiben. Gleichzeitig beschleunigt die Globalisierung heute das Verschwinden eben dieser Sprachen. Wenn eine Minderheitensprache ausgestorben ist, kann sie wiederbelebt werden?
In Großbritannien gibt es eine keltische Sprache namens Kornisch. Sie wurde viele Jahre nicht mehr gesprochen, verschwand im 17. und 18. Jahrhundert, erblühte aber wieder seit Beginn des 20 Jahrhunderts. Das Beispiel Kornisch zeigt, dass die Wiederbelebung einer Sprache in mehreren Phasen abläuft.
Der erste Schritt ist das "Benennen". Man gibt seinem Haus oder seinem Auto einen Namen, der auf Dokumenten aus der kornischen Vergangenheit basiert. Der nächste Schritt ist eine Art "Ritual". Das Gute an Ritualen ist, dass sie in einem bestimmten Rahmen und mit bestimmten Ausdrücken stattfinden, so dass man, auch wenn man die Sprache nicht spricht, daran teilnehmen kann, wenn man nur die Ausdrücke des Rituals lernt. Auf diese Weise entsteht auf der Wortebene eine Formel, z.B. eine Benennung, und auf der Satzebene ein Ritual. Dann gibt es die "Gesänge". Auch diese kann man singen, auch wenn man die Sprache nicht frei spricht, solange man den Text lernt.
Auf diese Weise schaffen sie eine Basis, an der jeder teilnehmen kann. Dann schafft man eine Zeit und einen Raum, in dem sich Menschen treffen können, die diese Sprache frei sprechen wollen. Man kann zum Beispiel jeden Samstag in eine Kneipe gehen, wo man sich trifft, um auf Kornisch zu sprechen. Durch diesen Prozess gewann die Sprache nach und nach wieder an Anerkennung, und 2004 wurde Kornisch schließlich von der britischen Regierung als Sprache anerkannt.
── Der Prozess der Wiederbelebung einer Sprache erinnert in gewisser Weise an das Erlernen einer Sprache durch ein Kind – und genau das macht ihn so faszinierend. Aber warum wollten die Menschen überhaupt das Kornisch wieder zum Leben erwecken, trotz all der Zeit und Mühe, die dafür nötig ist?
Warum machen sie sich die Mühe, eine ausgestorbene Sprache wieder zu beleben? Es geht um ihr Selbstwertgefühl und ihre Identität. Sie brauchen Kornisch nicht, um zu kommunizieren. Aber durch die Sprache können sie stolz auf ihre eigene Kultur und ihre Werte sein, und sie können stolz auf ihr eigenes Leben sein.
Ein Kollege von mir, der die Sprache der australischen Aborigines erforscht, sagt, dass die eigene Sprache für die psychische Gesundheit nützlich ist. In Australien haben Menschen, die die Sprache der Aborigines sprechen, eine niedrigere Selbstmordrate. Natürlich sprechen sie auch Englisch, aber wenn Englisch im Mittelpunkt steht, stehen die Aborigines am Rande. Wenn wir unsere eigene Sprache haben, und sei sie noch so klein, dann wird sie zu unserer zentralen Achse. Ich denke, es ist wichtig, dieses Gefühl zu haben, besonders für Menschen, die in einer Minderheitensituation oder am Rande sind.

── Was bedeutet es für dich, vom Aussterben bedrohter Sprachen zu hören?
Manchmal werde ich gefragt, welchen Sinn es hat, eine so kleine Sprache zu erforschen. Meine Antwort ist, dass es in jeder Gesellschaft Mehrheiten und Minderheiten gibt. Ich glaube, dass eine Gesellschaft, in der nur die Mehrheitsmeinung herrscht, keine sehr gute Gesellschaft ist. Eine Gesellschaft, die bestimmte Menschen unterdrückt oder nicht auf ihre Meinung hört, ist ungesund für die Gesellschaft als Ganzes.
Dass es Sichtweisen gibt, die von der Mehrheitsmeinung abweicht, ist eigentlich etwas Positives für die Gesellschaft als Ganzes. Auch im Fall der Sorben haben sie Veranstaltungen, Literatur und Ausdrucksformen, die die Deutschen nicht haben. Wenn diese Eigenschaften aus der deutschen Gesellschaft verschwinden, ist das nicht nur ein Problem für die Sorben, sondern für die gesamte deutsche Gesellschaft, weil eine Farbe verschwindet.
Die Mehrheitsgruppen sind oft nicht an den Minderheitsgruppen interessiert, während die Minderheitsgruppen an der Mehrheit interessiert sein müssen. Die Mehrheit sagt, die Minderheiten passen sich nicht an und sind verschlossen, aber ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Die Sorben zum Beispiel leben zweisprachig und sind flexibel genug, sich der deutschen Gesellschaft anzupassen.
Ich glaube, dass es in der heutigen globalen Gesellschaft sinnvoll ist, sich der Verschlossenheit der Mehrheit und ihrer selbstzufriedenen Haltung bewusst zu sein. Was in einem Land selbstverständlich ist, ist in einem anderen Land nicht selbstverständlich, und ich glaube, dass es für die Mehrheit hilfreich ist, diese Erkenntnis durch die Existenz von Minderheiten, die ihr nahe stehen, zu erlangen.
──Du lernst neben Sorbisch noch viele andere Sprachen, welche findest du besonders interessant?
Ich habe zwei. Eine davon ist die Gebärdensprache. Gebärdensprache ist eine visuelle Sprache. Wenn man spricht, weiß man normalerweise nicht, ob die andere Person einem wirklich zuhört. Bei der Gebärdensprache hingegen sieht man dem anderen in die Augen und nickt immer zu dem, was der andere sagt, was in der Gebärdensprache als Regel gilt. Man reagiert immer auf das, was das Gegenüber sagt und stellt Augenkontakt her, damit die Person weiß, dass das Geäußerte bei ihnen ankommt. Manchmal lade ich Gehörlose als Dozenten in meine Vorlesungen an der Universität ein und die Studenten konzentrieren sich auf den Dozenten ganz anders, als sie es bei mir tun (lacht).
Ich glaube also wirklich, dass die Gebärdensprache eine Sprache ist, die besondere 'Hörfähigkeiten' erfordert. Außerdem ist die Gebärdensprache eine dreidimensionale Sprache. Bei der Gebärde "Guten Tag" zeigt man mit den Zeigefingern beider Hände zueinander und verbeugt sich, indem man die Zeigefinger beider Hände zusammenlegt. Je nachdem, ob man die Finger beider Hände in einem größeren oder kleineren Abstand zueinander hält, kann man Nuancen der Beziehung zwischen den beiden Personen ausdrücken. Dies ist ein wesentliches und interessantes Merkmal der Gebärdensprache.
── Und was ist die andere Sprache?
Die andere ist Esperanto. Meiner Meinung nach ist Esperanto eine Sprache, die sowohl Merkmale des Englischen als auch des Sorbischen hat: Mittels Englisch kann man mit vielen Menschen auf der ganzen Welt kommunizieren. Aber nur weil man Englisch spricht, heißt das nicht, dass man sich sofort mit ihnen anfreunden kann. Umgekehrt ist Sorbisch eine kleine Sprache. Wenn man sie beherrscht, kann man sofort Leute aus dieser Gemeinschaft kennen lernen, aber die Gebiete, in denen Sorbisch gesprochen wird, und die Zahl der Sprecher sind ziemlich begrenzt.
In diesem Sinne wird Esperanto, ähnlich wie Englisch, von Menschen aus der ganzen Welt mit unterschiedlichem Hintergrund gesprochen, aber die Zahl der Menschen, die es sprechen, ist relativ klein, so dass man ihnen sehr nahe kommen kann, als wäre man in einem sorbischen Sprachgebiet. Esperanto ist eine Sprache die Menschen, die an interkulturellem Austausch interessiert sind, schon immer gelernt haben, und da die Sprecher verschiedene Kulturen und Hintergründe haben, sind die Themen, über die man spricht, wirklich vielfältig und erweitern den eigenen Horizont.
Alle, die Esperanto sprechen, haben eines gemeinsam: Sie haben sich die Mühe gemacht, die Sprache zu lernen, aber sonst haben sie nichts gemeinsam, und Menschen mit unterschiedlichen Hobbys, Persönlichkeiten und Berufen können sich treffen und sofort Freunde werden. In diesem Sinne ist Esperanto für mich, als ob ich die Welt einer großen und einer kleinen Sprache gleichzeitig erleben könnte.
Prof. Dr. Goro Christoph Kimura
Professor an der Sophia Universität in Tokio. Spezialisiert auf Soziolinguistik und Studien zum deutschsprachigen Raum. Seine Forschungs- und Lehrtätigkeit konzentriert sich insbesondere auf Sprachen und Energie als die Grundlage für die Gestaltung und Verwaltung einer Gesellschaft. Im Hinblick auf die Sprache untersucht er den Umgang mit der Mehrsprachigkeit auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene.