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KOKO#14 Ist es wirklich unsere Geschichte?

Interview mit Nora und Anja aus dem Kurator*innenkollektiv krudebude

#14 Ist es wirklich unsere Geschichte?

Interview mit Nora und Anja aus dem Kurator*innenkollektiv krudebude

KOKO ist ein Newsletter-Projekt, das versucht, die aktuelle Dynamik im Leipziger Osten durch Lebensgeschichten, persönliche Erinnerungen und Emotionen der Bewohner zu dokumentieren. Während wir die Geschichten auf der Eisenbahnstraße sammelten, befragten wir auch Menschen, deren „Arbeit“ das Zuhören ist, und fragten sie, wie man diesen Geschichten aufrichtig und respektvoll zuhören kann.

Geht man an der Kreuzung Eisenbahnstraße/Hermann-Liebmannstraße weiter nach Norden und überquert die Brücke über die Bahngleise, betritt man den Stadtteil Schönefeld. In der dritten Etage eines Eckhauses gleich am Anfang von Schönefeld befand sich bis Ende 2022 ein Offspace namens krudebude. Die Mitglieder schufen acht Jahre lang gemeinsam mit Gästen ein vielseitiges Programm aus Kunstausstellungen, Workshops und weiteren kulturellen Veranstaltungen. Außerdem arbeiteten sie in eigenen Ausstellungsprojekte mit Geschichten von Menschen aus dem Kiez, z.B. zum Stadtteil wie auch zur (Nach-)Wendezeit.

── Wie ist das Kurator*innenkollektiv krudebude entstanden?

Nora von krudebude (weiter N): Die krudebude wurde ursprünglich von drei Studierenden der Kulturwissenschaften gegründet. Der Wunsch war, einen praktischen Ort zu schaffen, an dem sie sich nicht nur theoretisch mit Kultur auseinandersetzen, sondern auch selbst Dinge ausprobieren können.

Die Gründerinnen arbeiteten seit 2013 gemeinsam an dem Projekt. Zuerst hatten sie einen Raum in der Nähe der Eisenbahnstraße, 2014 bezogen sie eine 3-Zimmer-Wohnung in Schönefeld. Diese war aber zunächst leer und heruntergekommen, sodass die Gruppe von der Lichtanlage bis zur Toilette alles selbst renoviert hat. Ungefähr zu dieser Zeit kam ich hinzu. Ich habe Kulturwissenschaften studiert und arbeite in Galerien, auf Festivals und auch als Kuratorin.

krudebude Anja (weiter A): Ich bin 2017 nach Leipzig gekommen, um Kulturwissenschaften zu studieren. Nora war eine Freundin, die ich schon von früher kannte und in Leipzig wiedertraf und sie lud mich ein bei der krudebude mitzumachen. Seitdem gab es einige Mitgliederwechsel und jetzt sind wir eine Gruppe von sechs Leuten. Jeder macht freiwillig mit und es gibt keine Hierarchie zwischen uns. Wir alle haben ein Interesse an Kunst und Kultur, eine Neugier und eine bestimmte Sicht auf die Welt und die Gesell-schaft. Die Ideen, die dabei entstehen, wollen wir gerne umsetzen.

Es ist eine Gruppe von Menschen, die einen Ort schaffen wollen, an dem Menschen zusammenkommen und Spaß haben können. Ein Ort, der die Perspektive der Menschen ein wenig verän-dern kann. Wir sind ein Team, aber auch eine Gruppe enger Freunde, und ich glaube, dass diese Freund-schaft die krudebude seit vielen Jahren am Laufen hält. Wir treffen uns jeden Montag, um Workshops und Veranstaltungen zu organisieren, Ausstellungs-konzepte zu diskutieren und so weiter. Seit wir Ende 2022 aus unseren gemieteten Räumen ausziehen mussten, arbeiten wir als Kollektiv ohne Ort.

── Die krudebude war acht Jahre lang in einer Wohnung im Stadtteil Schönefeld eingemietet, warum musstet ihr trotzdem raus?

A: In Leipzig gab es im Zuge der Stadtentwicklung seit der Wende zwischenzeitlich sehr viele leerstehende und unsanierte Häuser. Es gab ein Programm namens "Wächterhaus", bei dem Immobilien für eine begrenzte Zeit zu einer niedrigen Miete vermietet wurden, um die Gebäude zu erhalten und zu pflegen. Auch die krudebude nutzte diese Möglichkeit und mietete eine Dreizimmerwohnung in einem 100 Jahre alten Wohnhaus als Projektraum, allerdings war der Mietvertrag auf acht Jahre befristet. Dieser lief Ende 2022 aus und wir mussten ausziehen.

N: Die Miete war günstig und ich finde dieses Programm zur Umnutzung leerstehender Häuser großartig, aber leider war es nicht nachhaltig. Natürlich wollten wir hier bleiben und die krudebude weiterführen, aber wir hatten keine Chance zu verhandeln. Die Eigentümer wollten das Haus renovieren und verkaufen, also mussten alle aus-ziehen. Nachdem wir uns entschlossen hatten, auszuziehen, haben wir natürlich nach einer neuen Wohnung gesucht, aber die Miete wäre mindestens zwei- bis dreimal so hoch gewesen wie bisher. Wir hoffen, dass wir wieder eine eigene Wohnung finden werden, aber wir wissen noch nicht, was die Zukunft bringt.

── Mehrere Projekte von der krudebude haben sich auf die ehemalige DDR und die Übergangszeit der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland konzentriert. Ihr habt Ausstellungen kuratiert, die von den Erzählungen der Menschen inspiriert waren, die seit vielen Jahren in dieser Umgebung leben. Wie ist diese Idee entstanden?

A: Wir haben zunächst ausprobiert was wir im Bezirk machen können. Das Projekt "Blickfeld Schönefeld", das wir 2015 durchgeführt haben, ist zum Beispiel ein Grundstein der krudebude. Damals hat das Team Einwegkameras im Kiez ausgelegt, die man sich anonym mitnehmen, voll-fotografieren und dann wieder anonym in einen Briefkasten schmeißen konnte. Dabei sind inspierende und intime Bilder entstanden, die die Nachbar*innen selbst gemacht haben. Diese wurden dann im Rahmen des Projekts gezeigt.

N: Dann haben wir ein Projekt gestartet, das hieß “Westblech und Wendeschwur”. Der Grund dafür war, dass wir alle von der krudebude aus den alten Bundesländern kamen. Bis zu unserem Umzug nach Leipzig war die ehemalige DDR für uns weit weg. In der Schule haben wir viel über den Zweiten Weltkrieg gelernt, aber wenig über die ehemalige DDR. Erst als ich nach Leipzig gezogen bin, habe ich aus erster Hand erfahren, wie aktuell das Thema heute ist. "Westdeutsche" und "Ostdeutsche" - gibt es da noch Unterschiede in der Sozialisation? Wir wussten überhaupt nicht, was die Menschen in den ehemaligen DDR, insbesondere in Leipzig und Schönefeld, zwischen 1990 und heute erlebt haben. Also haben wir hier im Kiez Menschen interviewt, die die Wendezeit erlebt haben, und das auch auf Video aufgenommen.

A: In einem Folgeprojekt mit dem Titel "Schönefelder Streifzüge" sind wir mit den Bewohner*innen des Stadtteils spazieren gegangen und haben uns ihre Geschichten angehört. Begleitet von dem Fotografen Fabian Heublein haben wir die individuellen Perspektiven von sechs verschiedenen Bewohner*innen fotografiert und die Menschen porträtiert. Was hat sich in Leipzig verändert und wer lebt schon seit Jahrzehnten hier? Welche Orte sind wichtig und welche gibt es nicht mehr? Es war sehr spannend, diese Geschichten zu hören.

── Welche interessanten Geschichten habt ihr während des Projekts gehört?

A: Da war zum Beispiel eine Frau namens Petra, die jahrzehntelang in der Nachbarschaft gewohnt hat und politisch sehr aktiv ist. Sie ist mit uns durch den Kiez gegangen und hat uns von der "Gaststätte" erzählt, die es früher in jedem Wohngebiet in der ehemaligen DDR gab. Sie meinte, dass es früher in jedem Viertel eine Gaststätte gab, in der man zwanglos essen und trinken, Zeit allein verbringen oder jemanden treffen konnte. Solche Orte gibt es heute immer weniger, aber wie kann man sie schaffen? Das brachte uns auf einige Ideen für zukünftige Projekte.

N: Ein Ladenbesitzer namens Korshid, der einen Späti [ein Kiosk, der bis spät nachts geöffnet ist] in der Nachbarschaft betreibt, sagte über den Kiez, dass es hier noch eine Gemeinschaft gibt, die sich gegenseitig hilft und unterstützt. Einige Leute beschrieben den Bezirk als eine kleine Satellitenstadt, die man nur über Brücken erreichen kann.

── Seit dem Auszug aus der Wohnung Ende 2022 ist die krudebude zu einem ortlosen Kuratorenkollektiv geworden. Auf Einladung des Stadtmuseums Leipzig habt ihr im September 2023 eine Ausstellung präsentiert, die Menschen in Leipzig zeigt, die von der Geschichte vergessen wurden. Wie kamt ihr auf dieses Thema?

N: Das Leipziger Stadtmuseum im Alten Rathaus bietet, wie der Name schon sagt, einen Einblick in die Geschichte der Stadt. Der letzte Teil der Dauerausstellung erzählt die Entwicklung Leipzig von 1990 bis heute. Natürlich bedeutet eine Ausstellung immer eine Reduktion, die Geschichte kann nicht allumfassend abgebildet werden. Unserer Meinung fokussiert sich die Darstellung der jüngeren Geschichte aber fast ausschließlich auf die wirtschaftliche Entwicklung Leipzigs.

Wir wurden vom Museum als Kurator*innenkollektiv Kollektiv eingeladen und wir wollten von Beginn an kritisch in die Dauerausstellung des Museums eingreifen. Wir wollten die Geschichte der Stadt durch persönliche Geschichten ergänzen und den Bürger*innen die Möglichkeit geben sich daran zu beteiligen.Was wir einbringen wollen sind persönliche Perspektiven, darunter auch diejenigen aus migrantischen Initiativen und Communities und Stimmen aus der Leipziger Subkultur seit den 90ern. Mit den Initiativen haben wir im Rahmen von Veranstaltungen im Museum zusammengearbeitet und sie zeigen im Ausstellungsraum ihre Projekte. Die Vertreter*innen der Subkultur haben wir selbst interviewt.

A: Ganz zu Beginn des Interventions-Projekts haben wir Interviews zum Thema gemacht und Gruppendiskussionen mit Leuten in Leipzig geführt. Dann haben wir eine Veranstaltung mit dem Titel "Meckern um Museum" organisiert, um selbst kritische Fragen zu stellen. Wir haben die Besucher des Stadtmuseums gefragt, welche Probleme sie in der aktuellen Präsentation der Ausstellungen sehen, was ihrer Meinung nach ergänzt werden sollte, welche Geschichte ausgelassen wurde etc.

Es war inspirierend, die verschiedenen Stimmen von Menschen im Alter von etwa 60 Jahren zu hören, die den Fall der Mauer erlebt haben, und zu sehen, wie sie die Möglichkeit bekamen, ihre eigenen Geschichten zu erzählen und das zu sagen, was noch nicht erzählt wurde. Natürlich ist es unmöglich, ein perfektes Bild der gesamten Geschichte zu zeichnen, aber wir hoffen, mit der Intervention, Menschen anzuregen, sich auch selbst zu fragen "Was möchte ich gern noch am Bild von Leipzigs Geschichte seit den 90ern ergänzen?"

── Warum ist es eurer Meinung nach wichtig, diese kleinen und vielfältigen Geschichten zu sammeln?

N: Es geht natürlich darum größere Zusammenhänge darzustellen. Aber um die Gesellschaft in ihrer Diversität zu verstehen, braucht es es ein Verständnis für die Zwischentöne. So machen wir uns in unseren Projekten immer auf die Suche nach den individuellen Geschichten, nach den Alltagsgeschichten. Wir hören zu und möchten die Geschichten dann auch weitergeben, um anderen die Möglichkeit zu geben, unbekannte Perspektiven einzunehmen.

A: Natürlich ist das eine riesige Aufgabe und es ist unmöglich, alles zu zeigen. Aber persönliche Perspektiven sind ein Tor zur Vielfalt. Die meisten Menschen, die uns bei unserem Projekt geholfen haben, sind 30 Jahre älter als wir. Wir kommunizierten mit Menschen einer ganz anderen Generation, was im Alltag nicht so oft vorkommt. Vor allem im städtischen Leben sind solche Interaktionen zwischen den Generationen meiner Meinung nach oft fragmentiert, außer wenn es um Arbeit oder Familie geht. Wir möchten mit den Menschen in Dialog treten und zum Austausch untereinander anregen: Gerade wenn Hintergrund, Sozialisation, Generation die Gesprächspartner*innen erstmal zu trennen scheinen.

krudebude

krude heißt: Wir brechen auf, wir räumen ab und bohren nach.  
bude heißt: Wir bauen Neues, schaffen Orte und laden ein.

Die krudebude ist ein Kollektiv aus Leipzig. Wir arbeiten künstlerisch, dokumentarisch und kuratorisch. Wir suchen nach Perspektiven auf die Gegenwart, auf das Zusammenleben, auf Veränderung. Wir finden Darstellungsformen für Unterschiedlichkeiten. Wir treten an gegen einfache Antworten, Einseitigkeit, graue Räume und Gedanken.

Bis Ende Oktober 2025 ist die krudebude Intervention "Fehlt hier nicht was?!" im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, Altes Rathaus, 2. OG noch zu sehen.