
#16 Ich mach’s jetzt nur für mich
Interview mit Gisela

Einst als "gefährlichste Straße Deutschlands" bezeichnet, hat sich die Eisenbahnstraße in Leipzig zu einer lebendigen Straße entwickelt. Während sich die Stadt rasant verändert, gibt es Menschen, die in ihrem eigenen Tempo und mit einer gewissen Gelassenheit ihren Weg gehen.

Im 16. Teil geht es um Gisela, die ruhig in einer Wohnung nahe der Eisenbahnstraße lebt. Nach ihrem 60. Lebensjahr studierte sie Architektur an der Universität Leipzig. In ihrer Wohnung, wo sie jetzt ein ruhiges Leben als Rentnerin führt, spiegelt sich bis in jeden Winkel ihre Ästhetik wider.
Gisela wurde 1952 geboren und wuchs in Villingen im Schwarzwald auf. Sie hat sich schon immer für Handwerk und Design interessiert, aber nie studiert.
"Ich habe die Schule ohne Abschluss verlassen. Ich hatte ein schlechtes Verhältnis zu meinen Eltern und wollte weg. Dann hatte ich das Glück, an einer archäologischen Ausgrabung teilnehmen zu können. Meine Aufgabe war es, die Ausgrabungen für die Publikation zu zeichnen. Ich hatte genug Talent, um das auch ohne Ausbildung zu machen", sagt sie.
Je nach Auftrag änderte sich auch ihr Wohnort.

Mit knapp 60 Jahren holte sie schließlich das Abitur nach. Da Gisela durch ihre Arbeit als Illustratorin die Verlagsbranche kennen gelernt hatte, wollte sie Mediengestaltung studieren und interessierte sich für ein Studium in Leipzig, einer Stadt, die für ihre Buchkunst berühmt ist.
Sie erzählt: "Leider habe ich es nicht geschafft, Mediengestaltung zu studieren, weil meine Noten nicht gut genug waren. Also versuchte ich es mit Architektur, das war mein zweiter Wunsch. Aber da gab es eine Aufnahmeprüfung. Die Aufgaben waren: Schreibwaren auf einem Schreibtisch zu skizzieren, ein Gebäude aus Schreibwaren zu bauen und dreidimensional zu zeichnen und einen Text über Architektur zu lesen und in einer Skizze darzustellen. Keine der Aufgaben fiel mir schwer, sie waren sehr kreativ und interessant. Und ich habe bestanden! "

Als sie ihr Studium begann, war Gisela bereits über 60 Jahre alt.
"Ich musste mich online anmelden, aber mein Geburtsjahr wurde nicht akzeptiert. Oder bei der ersten Orientierung dachte die Dozentin, ich sei die Mutter eines Studenten [lacht]. Einige Vorlesungen haben mir nicht gefallen, zum Beispiel Baurecht, und ich war faul, deshalb habe ich den Abschluss nicht geschafft. Aber ich habe mich mit meinen jüngeren Kommilitonen angefreundet, und die Zeit mit ihnen war wirklich schön", sagt sie.
Nach Beendigung ihres Studiums ging Gisela direkt in Rente und lebt nun in ihrem eigenen Rhythmus, indem sie zum Beispiel Essays für ein Regionalmagazin im Leipziger Osten schreibt.
"Immer wenn eine Zeitschrift erscheint, an der ich mitarbeite, gehe ich die Eisenbahnstraße entlang und bitte alle Läden, das Heft auszulegen. Ich unterhalte mich mit den Leuten in den Geschäften und alle sind immer freundlich und offen. Es ist schwer, sich für einen Lieblingsort zu entscheiden, ich mag die Atmosphäre der ganzen Straße.”

Giselas Wohnung in der Nähe der Eisenbahnstraße ist mit schönen hölzernen Schreibtischen, Stühlen und Körben ausgestattet, in den Regalen stehen ihre alten Arbeitsgeräte und Studienbücher. Ob dieser Raum, der in jeder Ecke ihren Geschmack widerspiegelt, ihr endgültiges Zuhause sein wird, weiß sie noch nicht.
"Manchmal denke ich darüber nach, in eine andere Stadt zu ziehen, aber es gibt keinen Grund, Leipzig zu verlassen. Seit etwa drei Jahren sehe ich nicht mehr gut. Früher bin ich gern in Museen gegangen, aber jetzt macht es mir keinen Spaß mehr, mir Bilder anzuschauen. Fotografieren geht noch. Ich fotografiere selbst, wenn ich Interviews für die Zeitschrift mache. Ich drücke einfach auf den Auslöser, gehe nach Hause und schaue mir das Bild auf dem Monitor an. Dann ist da noch die Musik. Ich übe zu Hause Geige und Flöte. Es ist schwierig, mit dem ganzen Körper einen Ton zu erzeugen, und ich bin keine gute Musikerin. Aber egal, ich mache es für mich. Ich werde sehr schnell müde und mein Körper funktioniert nicht so gut, wie ich möchte, aber ich bin jetzt alt genug."

