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KOKO#4 Die Eisenbahnstraße aus der Sicht eines Psychotherapeuten

Interview mit Tobias Gfesser

KOKO ist ein Newsletter-Projekt, das versucht, die aktuelle Dynamik im Leipziger Osten durch Lebensgeschichten, persönliche Erinnerungen und Emotionen der Bewohner zu dokumentieren. Während wir die Geschichten auf der Straße sammelten, befragten wir auch Menschen, deren „Arbeit“ das Zuhören ist, und fragten sie, wie man diesen Geschichten aufrichtig und respektvoll zuhören kann.

Tobias Gfesser arbeitet als Psychotherapeut in einer Entzugsklinik für Drogenabhängige in Mittelsachsen. Dort hört er täglich unterschiedlichste Lebensgeschichten seiner Patienten. Seine Aufgabe als Therapeut sieht er darin, Raum für die Geschichten seiner Patienten zu geben und ihnen gleichzeitig dabei zu helfen, Abstand von nicht hilfreichen Narrativen herzustellen. Außerdem beschreibt er die Freiräume im Leipziger Osten, wo er seit vielen Jahren lebt, als "ideale therapeutische Räume".

── Beim Sammeln der vielfältigen Lebensgeschichten der Menschen in der Eisenbahnstraße begannen wir über unsere eigene Rolle als „Zuhörer“ nachzudenken. Der Beruf des Psychotherapeuten ist ja gewissermaßen ein professionelles Zuhören der Geschichten der Patienten. Warum hast du dich entschieden, Psychotherapeut zu werden?

Ich habe mich eher aus einem Bauchgefühl heraus für das Psychologiestudium entschieden. Mit ausschlagend hierfür war, dass mir die Arbeit als Psychotherapeut als eine sehr spannende Perspektive erschien. Ich hatte zunächst längere Zeit überlegt, etwas Kreativem nachzugehen, zum Beispiel Design oder Musik zu studieren.

Schlussendlich war ich mir aber unsicher, ob ich diese Interessen zum Beruf machen möchte. Im Laufe des Psychologiestudiums, welches sehr viele Bereiche umfasst, hatte ich dann mein anfängliches Interesse an Psychotherapie ein wenig aus den Augen verloren. Nach einigem Hin und Her habe ich dann aber zu dieser ursprünglichen Idee zurückgefunden. Jetzt bin ich sehr zufrieden, mich damals so entschieden zu haben.

Derzeit arbeite ich auf der Suchtstation einer psychiatrischen Klinik in Mittelsachsen. Die Patienten, die in unsere Klinik kommen, sind abhängig von illegalen Drogen wie Crystal Meth, Kokain, Heroin oder Cannabis und oftmals zusätzlich von Alkohol. Die Drogen erfüllen bei den Patienten dabei meistens die Funktion, schmerzhafte Gefühle und Gedanken vorübergehend zu betäuben.

Deswegen sehe ich meine Hauptaufgabe darin, mit den Patienten an den der Sucht zu Grunde liegenden Faktoren zu arbeiten. Dabei geht es immer darum, den Patienten zu helfen, für sich einen langfristig hilfreichen Umgang mit schmerzhaften Gefühlen und Gedanken zu finden.

── Brauchen alle Menschen, welche mit einem Trauma oder mit Ängsten konfrontiert sind, Psychotherapie?

Menschen, denen es gut geht, brauchen keine Therapie. Ängste zu haben oder schmerzhafte Erfahrungen gemacht zu haben ist an sich nichts Schlimmes und bringt das Leben für viele Menschen mit sich. Solange man darunter nicht sonderlich leidet oder sich beeinträchtig fühlt, gibt es keinen Anlass für eine Behandlung. Erst wenn starkes Leiden oder größere Einschränkungen in der Lebensgestaltung bestehen, sollte man eine Behandlung in Erwägung ziehen.

Ein Beispiel aus der Suchtbehandlung: Viele Menschen fühlen sich in größeren Menschenansammlungen, wie einer großen Feier, eher unwohl. Der Konsum von Alkohol hilft dann so manchem, sich in einer solchen Situation ein Stück weit lockerer und gelöster zu fühlen. Ein solches Verhalten gibt noch keinen Anlass für eine Psychotherapie. Ein behandlungsbedürftiges Problem finge meiner Meinung nach dann an, wenn einer Person bspw. der Besuch einer Feier ohne den Konsum von Alkohol nicht mehr möglich erscheint.

Ein solches Konsumverhalten, welches darauf abzielt, gezielt schmerzhafte Gefühle zu dämpfen, kann sich schnell ausweiten und eine Abhängigkeitserkrankung entstehen. Zieht sich eine Sucht über längere Zeit, so geht dies nicht selten mit dem Verlust des Arbeitsplatzes, der Trennung durch den Partner und ernsthaften körperlichen Erkrankungen einher.

Die Psychotherapie in der Suchtbehandlung setzt immer daran an, Patienten zu vermitteln, wie man mit schwierigen Gefühlen umgehen kann, ohne auf eine Substanz zurückgreifen zu müssen. Dabei gibt es unterschiedlichste Therapieansätze und so manche nehmen sich als Hauptziel, übermäßige Ängste etc. zu beseitigen. Den Ansatz den ich verfolge setzt eher darauf, sich als hauptrangiges Ziel einer Therapie ein gutes Leben zu setzen, und Möglichkeiten zu schaffen, auch mit Ängsten etc. ein solches Leben führen zu können. Das ist meiner Meinung nach ein wichtiger Unterschied in der Zielstellung.

── Wie genau kann man sich die Therapie, die du in der Klinik machst, vorstellen?

In der Behandlung innerhalb der Klinik besteht ein Großteil der Therapieangebote in Form von Gruppentherapie. Solche Gruppentherapien gestalte ich sehr frei und motiviere die Patienten eigene Themen aufzubringen. Findet sich ein Thema, so wird dieses mit Fokus auf den Patienten, der dieses aufgebracht hat, gemeinsam diskutiert. Dabei nehme ich mich eher zurück und versuche, möglichst viele Patienten zu Wort kommen zu lassen.

Ich sehe meine Rolle also eher als die eines Moderators, der nur wenn nötig diskussionsanregende Fragen stellt. Ein ganz entscheidender Faktor erscheint mir, dass die Patienten selbst in der Gemeinschaft lernen, Probleme zu teilen, ein tieferes Verständnis zu entwickeln und diese miteinander schließlich so zu bearbeiten, dass für sie stimmige Lösungsansätze entstehen. Ist in der Patientengruppe ein solches Klima geschaffen, so kann sich die Gruppe auch außerhalb der Therapieangebote gegenseitig unterstützen.

Der Therapieansatz, welchen ich im Hinterkopf dabei mit einbeziehe, nennt sich „Akzeptanz- und Commitment-Therapie“ (ACT). Dieser Ansatz legt seinen Schwerpunkt in der Therapie darauf, schmerzhafte Gefühle so schmerzhaft wie sie eben sind, anzunehmen und akzeptieren zu lernen, um davon ausgehend in Richtung selbstgewählter Werte aktiv handeln zu können.

Wenn Patienten aufhören Substanzen zu konsumieren, so wird ihnen oftmals erst richtig deutlich, dass sie während ihres Konsums Familienmitglieder oder Freunde verletzt haben. Dieses Sich-Bewusst-Werden geht oft mit starken Gefühlen von Verzweiflung einher und Patienten neigen dazu, auf solche schmerzhaften Gefühle mit Vermeidung zu reagieren, bei Suchtpatienten durch Konsum von Drogen. Dadurch kommt es zu einem Teufelskreislauf.

Durch dieses ständige Vermeiden verlieren viele Patienten aus den Augen, was ihnen eigentlich im Leben wichtig ist. Die Patienten zu ermutigen, Gefühle bewusst wahrzunehmen, nicht von ihnen zu fliehen, sondern auch mit diesen Gefühlen ganz bewusst in eine Richtung zu gehen, in die sie gehen wollen, ist ein wichtiges Therapieziel in der ACT. Oft sind die Bereiche im Leben, die einem wichtig sind, gerade die Bereiche, die mit den schmerzhaftesten Gefühlen einhergehen können.

 

── Was wir während unserer Interviews mit den Menschen in der Eisenbahnstraße gespürt haben, ist, dass der Akt des Erzählens selbst ein gemeinsamer Prozess zwischen Erzähler und Zuhörer ist. Was bedeutet es für dich als Psychotherapeut den Geschichten von Menschen zuzuhören?

Aus einer psychotherapeutischen Sicht erscheint es mir sehr wichtig, dass man zuhört und Raum gibt, dass Menschen über ihre Probleme sprechen können. Wenn man über das schmerzhafte, was einem passiert ist, spricht oder schreibt, so sind die Gefühle und Gedanken nicht mehr nur im Kopf, sondern es kann eine gewisse Distanz zu diesen hergestellt werden. Erzählt man sich alleine eine Geschichte wieder und wieder so besteht die Gefahr, dass man sich in einem Narrativ verliert und davon ein Stück weit gefangen genommen wird.

Der Therapieansatz, den ich verfolge, setzt auch darauf, Person zu helfen, eine gewisse Distanz zu festgefahrenen, nicht hilfreichen Narrativen zu schaffen. So erzählen sich viele Menschen, dass sie bestimmte Gefühle nicht ertragen können. Gefühle an sich sind jedoch nichts, was einen zerstören kann, nur die Reaktionen auf die Gefühle.

Gefühle können schmerzhaft sein, geben aber gleichzeitig auch immer wichtige Hinweise, bspw. darauf, was einem gerade fehlt oder auch was einem gerade wichtig ist oder in Vergangenheit einmal wichtig war. Wenn man eine gewisse Distanz zu den eigenen Narrativen herstellen kann, so wird es auch einfacher, schmerzhafte Gefühle besser zu deuten und einzuordnen.

── “Eine gewisse Distanz zu den eigenen Narrativen herstellen” – eine spannende Sichtweise. Hast du vielleicht ein Beispiel dafür?

Ein Patient kann sich zum Beispiel schämen und traurig darüber sein, dass er seine Familie und Freunde verraten hat. Solche Gefühle scheinen für manche Patienten unaushaltbar, sodass viele Patienten zur Vermeidung von solchen Gefühlen neigen. In der Therapie könnte man hier bspw. mit folgender Frage ansetzen: "Um diese schmerzhaften Gefühle nicht mehr zu haben, was müsste für Sie weniger wichtig sein?“ Das erscheint erstmal eine seltsame Frage.

Mit einigem Nachdenken kommt der Patient vielleicht zu folgender Antwort: „Wenn mir meine Familie und meine Freunde nicht mehr so wichtig wären, dann hätte ich dieses Gefühl nicht mehr.“ Da den Patienten ihre Familie oder Freunde jedoch nicht unwichtig sind, kann die Frage ihn darauf führen, dass die unangenehmen Gefühle von Scham und Traurigkeit eben deswegen bestehen, weil ihm etwas wichtig ist: Familie und Freunde.

Durch den dadurch entstehenden Fokus auf das, was dem Patienten wichtig ist, kann der Patient zu einer akzeptierenderen Haltung auch gegenüber solchen schmerzhaften Gefühlen kommen. Entscheidend ist demnach ein anderes für den Patienten hilfreiches Verständnis für die eigenen Emotionen und nicht, schmerzhafte Emotionen zu bekämpfen oder gar auszuschalten.

── In unseren Interviews haben wir uns bisher auf das Erzählen von Geschichten konzentriert - tatsächlich scheint aber auch das „Entwirren“ dieser Geschichten ein sehr wichtiger Teil zu sein. Wie schafft man es als Psychotherapeut Patienten dazu zu bringen, über ihre innerste Gefühlswelt zu erzählen?

Das Wichtigste ist, eine gute Verbindung zum Patienten herzustellen. Menschen haben ein sehr sensibles Gespür dafür, ob man ihnen wirklich zuhört und gefühlsmäßig mitgeht mit dem, was sie sagen. Wenn man als Therapeut während eines wichtigen Themas eines Patienten gerade an etwas anderes denkt, merkt das ein Patient für gewöhnlich und die therapeutische Beziehung nimmt Schaden. Das heißt als Therapeut muss man während der Therapie immer vollkommen präsent sein.

In vielen Therapiesitzungen spreche ich eigentlich nicht viel. Wenn der Patient wirklich in seine eigene Geschichte vertieft ist und eine emotionale Aktivierung zu spüren ist, erscheint es mir am wichtigsten, einfach präsent zu sein, genau zuzuhören und dem Patienten Raum für die eigene Verarbeitung seiner Probleme zu geben.

Jedoch gibt es auch Sitzungen, in denen das Erzählen einer Geschichte wenig in Bewegung zu setzen scheint. Der Unterschied erscheint mir hierbei weniger darin zu liegen, was genau der Patient inhaltlich erzählt, sondern viel mehr, wie der Patient seine Geschichte erzählt. Ist er gefühlsmäßig aktiviert oder eher distanziert-verkopft? Lässt er auch schmerzhaften Gefühlen Raum oder versucht er seine Gefühle beim Erzählen zu kontrollieren? 

── Deine Rolle dabei ist, den Emotionen des Patienten Raum zu geben.

Wenn eine Patientin zum Beispiel über ihr schlechtes Verhältnis zur eigenen Tochter erzählt, so kann eine emotionale Aktivierung und Verarbeitung dazu führen, dass sie langfristig gefühlsmäßig leichter mit der schwierigen Situation umgehen kann. Es kann jedoch auch passieren, dass sich die Patientin, um so mehr sie darüber erzählt und nachdenkt, mehr und mehr in Rage gerät, emotional immer aufgewühlter wird und es schließlich zu keiner hilfreichen Verarbeitung kommt. Dies hängt oftmals mit einer übermäßig verkopften Auseinandersetzung mit den eigenen Problemen zusammen und damit, dass bestimmte Gefühle bewusst oder unbewusst vermieden werden.

Wenn ich das bemerke, so unterbreche ich die Patienten auch manchmal und versuche sie mehr zu einer emotionale Verarbeitung zu führen, bspw. indem ich sage: "Warten Sie einen Moment. Lassen sie uns hier kurz pausieren. Wie fühlen sie sich im Moment? Können Sie den Ärger an einer bestimmten Stelle ihres Körpers spüren? Wie genau fühlt sich das an?“ Wenn man zu viel redet und zu viel nachdenkt, kann man den Kontakt zu seinen Gefühlen ein Stück weit verlieren. Wenn Gefühle da sind, ist es für eine Verarbeitung hilfreich, diese nicht zu unterdrücken, sondern ihnen bewusst Raum zu geben.

Gleichzeitig ist jedoch auch immer wichtig zu beachten, ob der Patient dafür bereit ist und die Gefühle zum jeweiligen Zeitpunkt zulassen möchte. Ein Forcieren eines Gefühlsausdrucks beim Patienten kann dazu führen, dass sich dieser weiter verschließt und therapeutische Beziehung beschädigt wird. Diesen Spagat zwischen Sensibilität und Konfrontation zu meistern ist meiner Meinung nach die Kunst der Psychotherapie.

── Aus deiner psychotherapeutischen Perspektive siehst du in den Freiräumen im Leipziger Osten "ideale therapeutischen Räume". Was genau meinst du damit?

Ich lebe seit 2018 im Leipziger Osten und war insbesondere im Freiraum „Das Japanische Haus“ zunächst als Gast und dann als Mitgestaltender vor Ort. Im Dialog mit den Menschen dort habe ich auch für meine Arbeit als Psychotherapeut viel gelernt.

Psychische Probleme stehen oft im Zusammenhang damit, dass sich Menschen gegenüber ihren nächsten Bezugspersonen, wie Angehörigen oder Freunden, nicht voll öffnen können und sich nur bedingt akzeptiert fühlen. In einer Therapie kann eine gute therapeutische Beziehung dem Patienten Mut machen, ähnliche Beziehungen zu gestalten, in welchen man auch über sensible Themen wie Ängste und eigene Bedürfnisse sprechen kann. Aber eine Therapie besteht oftmals in einem einzelnen Gespräch in der Woche und das ist ein sehr kleiner Rahmen im Vergleich zur realen Welt.

Was ich an der Eisenbahnstraße mit ihren Freiräumen wie dem „Japanischen Haus“ interessant finde, ist, dass dort, trotz der diversen Mischung von Menschen verschiedenster Nationalitäten, Kulturen und Generationen, alle gemeinsam eine schöne Zeit verbringen können.

Das Gefühl, von seinen Mitmenschen akzeptiert und angenommen zu werden, erscheint mir auch aus psychotherapeutischer Sicht immens wichtig. In vielen Freiräumen herrscht eine solche Stimmung der Gemeinschaft. Man wird so angenommen, wie man eben ist, auch wenn du gerade nichts interessantes zu sagen hast, auch wenn du leise bist oder laut. Eine solche Gemeinschaft kann in einem professionellen psychotherapeutischen Kontext nur bedingt geschaffen werden.

── Was sind für dich die Freuden und Herausforderungen als Psychotherapeut?

Ich gehe meiner Arbeit sehr gerne nach. Es ist schön, Patienten in einem Entwicklungsprozess zu begleiten und zu sehen, wie sie für sich neue Wege finden, neue Erfahrungen machen und wie sich im Zuge dessen bei vielen das Leben zum positiven verändert.

Schwierig ist die Arbeit, wenn über einen langen Zeitraum wenig Bewegung stattfindet und man das Gefühl hat, dass trotz vieler Gespräche und Ansätze sich beim Patienten emotional wenig tut. Jeder Patient braucht seine eigene Zeit und natürlich muss die Chemie zwischen Patient und Therapeut stimmen.

Manchmal muss man auch zum Schluss kommen, dass vielleicht die Therapie bei einem anderen Therapeuten besser funktionieren könnte oder vielleicht im Moment einfach nicht der richtige Zeitpunkt für Veränderung ist.

Tobias Gfesser

Von Beruf Psychotherapeut. Seit 2010 lebt er in Leipzig, wo er auch studiert hat. 2016 verbrachte er im Rahmen eines Auslandsstudiums ein Jahr an der Keio University in Japan. Derzeit arbeitet er auf der Suchtstation einer psychiatrischen Klinik in Mittelsachsen. Als Hobby spielt er die Koto (ein japanisches Saiteninstrument), geht boxen und legt manchmal als DJ japanische Songs aus den 80ern auf.