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KOKO#7 Pass und die Fünf Gemälde
Interview mit Alisa

#7 Pass und die Fünf Gemälde
Interview mit Alisa

Mehran Karimi Nasseri (Part 1 of „ID“ series), Acrylic on canvas, 140 cm x 120 cm, 2022
Einst als "gefährlichste Straße Deutschlands" bezeichnet, hat sich die Eisenbahnstraße in Leipzig zu einer lebendigen Straße entwickelt. Während sich die Stadt rasant verändert, gibt es Menschen, die in ihrem eigenen Tempo und mit einer gewissen Gelassenheit ihren Weg gehen.
In der siebten Folge reden wir mit Alisa. Sie wurde in St. Petersburg, Russland, geboren und kam als Kind nach Deutschland. Wie andere Einwanderer wuchs sie hier in Deutschland auf, aber irgendwann durfte sie keinen Pass mehr besitzen. Sie sprach über ihre künstlerische Arbeit und wie sie ihr Leben anhand einer Serie von fünf Gemälden, die sie zu ihrem Thema "Personalausweis" schuf, beschreibt.
──Erinnerst du dich daran, wie du als Kind in St. Petersburg gelebt haben?
Ja. Seit ich in Deutschland lebe, fragen mich viele, woher ich komme und warum ich nach Deutschland gezogen bin. Deshalb habe ich mich oft bewusst an meine Kindheit erinnert, was diese Erinnerungen natürlich verfestigt. Wobei ich mir manchmal nicht sicher bin, was Wahrheit ist, was ich mir langsam hinzuerfunden habe, oder was vielleicht sogar nur Traum war.
──Wann bist du nach Deutschland gekommen?
Ich war acht Jahre alt. Zuerst lebte ich zwei Jahre lang in Düren in Nordrhein-Westfalen und dann zog ich nach Emden. Dort habe ich bis zum Abitur gewohnt.
──War es schwer, dich an die Sprache und Kultur zu gewöhnen?
Eigentlich nicht. Mein Urgroßvater war Deutscher, und als ich in Russland lebte, hörte ich oft deutsche Musik. In den ersten sechs Monaten habe ich die Sprache nicht verstanden, also nur 'Ja' und 'Nein' und 'Mein Hut der hat drei Ecken.'. Damals fühlte mich in Deutschland sehr fremd. Weil ich mich nicht richtig wehren konnte, wurde ich auch ein wenig gemobbt. Dann habe ich aber die Sprache gelernt und auch wie man Lustig ist, danach wurde es einfacher.
──Hast du dich jemals gewünscht, nach deiner Heimat zurückzukehren?
Am Anfang habe ich mir immer wieder in den Arm gekniffen, weil die Realität in Deutschland so anders war, dass ich manchmal zweifelte, ob ich nicht doch träumte. Später, als Teeanger, hatte ich dann aber schon oft Heimweh. Wie alle in dem Alter kämpft ich mit meiner Identität. Ich sah mich nicht als Deutsche und je länger ich nicht in Russland war, desto weniger sah ich mich auch als Russin. Ich habe ja schon mit 12 keinen Ausweis mehr gehabt.
──Du mochtest Kunst seit dieser Zeit?
Ja, Ich hatte diese vage Vorstellung davon, später einmal etwas mit Kunst zu machen. Was Praktisches, nicht am Computer. Aber ich wusste schon früh, dass ich nicht als freischaffende Künstlerin arbeiten wollte. Durch einen Freund kam ich auf die Idee, Kunsttherapie zu studieren. Ich entschied mich erstmal einen Bachelor in Kunstpädagogik zu machen, obwohl ich nie an der Schule arbeiten wollte, ich hasse das öffentliche Schulsystem. Ich wollte frei mit Menschen künstlerisch arbeiten. So landete ich im Studiengang für außerschulische Kunstpädagogik an der Uni Leipzig. Allerdings habe ich mein Studium spät begonnen, erst mit 25 Jahren.
──Wie hast du dein Studium angefangen?
Nach dem Abitur studierte ich nicht direkt, sondern zog mit 20 mit meinem damaligen Freund nach Berlin. Wir waren rebellische Systemfeinde, wie viele junge Leute, und wir wollten nicht dem klassischen Bildungsweg folgen. Also hatten wir die Idee zusammen nach Spanien zu gehen, ein Stück Land zu kaufen und dort autark zu leben. Aber bevor wir den Plan umsetzen konnten, trennten wir uns von einander. Alleine wollte ich nicht nach Spanien gehen und so hatte ich plötzlich keinen Plan mehr für mein Leben. In meiner Verzweiflung beschloss ich, doch zu studieren, nur waren die Bewerbungsfristen für die Kunsthochschulen in dem Jahr schon vorbei. Also habe ich mich für Kunstgeschichte eingeschrieben. Aber das war nicht ganz das Richtige für mich, nicht praktisch genug. Der Wechsel zu Kunstpädagogik war die beste Entscheidung meines Lebens.
──Wie war dein Studium an der Universität?
Ich habe es sehr genossen. Der Stundenplan bot eine gute Mischung aus Praxis und Theorie, mit Schwerpunkt auf Praxis. Und war so gestaltet, dass wir viel freie Zeit hatten. Einigen Kommilitonen gefiel das nicht, aber ich habe es als Chance gesehen mich neben dem Studium auf mein Leben nach dem Studium vorzubereiten und bei verschiedenen Ehrenämtern Praxiserfahrungen zu sammeln.
──Du hast die 5 Gemälde als Abschlussarbeit präsentiert. In der Beschreibung schreibst du, ‘die sich mit der Diskrepanz zwischen persönlicher Identität und Identifikation befassen'.
Es begann damit, dass ich einen Dokumentarfilm über einen Mann sah, der in einem Flughafen lebte. Er verbrachte 18 Jahre im Terminal, weil er keinen Personalausweis besaß. Als er schließlich eine Aufenthaltsgenehmigung erhielt, wollte er weiter am Flughafen bleiben. Er verstand sich nicht mehr als persischer Mann mit dem Namen Mehran Karimi Nasseri. Er nannte sich nun Sir Alfred und stellte sich als Engländer vor. 18 Jahre Leben am Flughafen haben seine Identität in etwas anderes verwandelt. Die Geschichte hat mich fasziniert; ich konnte mich zum Teil damit identifizieren, mit dem Kampf zwischen der persönlichen und der bürokratischen Identität. Außerdem sah dieser Mann sehr interessant in diesem Flughafenumfeld aus. Daher beschloss ich, zwei Filmstills aus diesem Dokumentarfilm zu malen.

Mehran Karimi Nasseri war das Modell für den Film ‘Terminal’. Nachdem ihm seine Tasche mit dem Flüchtlingsausweis und der Einreisegenehmigung am Flughafen gestohlen wurde, wurde ihm die Einreise nach Großbritannien und Belgien verweigert, woraufhin er am Flughafen Charles de Gaulle landete. Dort lebte er 18 Jahre lang. Im Jahr 2007 erhielt er eine Aufenthaltserlaubnis von der französischen Regierung und verließ das Flughafengelände. Doch im September 2022 kehrte er freiwillig zum Flughafen Charles de Gaulle zurück. Nur wenige Wochen später, am 12. September, erlitt er im Terminal 2 des Flughafens einen Herzinfarkt und verstarb. Er war 80 Jahre alt.
──In der Gemäldeserie gibt es neben ‘Sir Alfred’ noch drei weitere Figuren. Wer sind sie?
Ich sprach mit meiner Dozentin über meine Idee. Sie sagte: “Das Thema ist sehr gut, aber das reicht nicht für eine Abschlussarbeit, du musst mehr Bilder malen.". Also begann ich zu recherchieren, nach weiteren Szenarien, in denen diese Diskrepanz auftrat und Menschen durch das bürokratische Netz fielen.
Da stieß ich auf Kowloon Walled City, einen De-facto-Staat, der bis 1993 mitten in Hongkong existierte. Es war ein gesetzloser Ort an dem die Kriminalität vorherrschte, gleichzeitig aber auch ein Zufluchtsort für Flüchtlinge und Menschen ohne Papiere. Also malte ich einen Filmstill aus einer Dokumentation über diesen Ort. Dort ist ein Mensch zu sehen, der aus dem Fenster schaut. Es sieht fast aus wie ein Gefängnis mit den ganzen Gittern, aber für diesen Menschen war es vermutlich der einzige Ort, an dem er frei sein konnte.
Eine weitere Malerei zeigt Ibby E Okinyi, der vor einer Polizeiwache fröhlich seinen Pass verbrennt. Mein Mitbewohner hatte ihn zufällig in Leipzig getroffen und mir von ihm erzählt. Ich habe dann bei meiner Recherche sein Buch und Videoclips von dieser Verbrennung gefunden. Er lebt und reist freiwillig ohne Papiere. Er befreite sich von den bürokratischen Zwängen.
Zuletzt beschloss ich mich selbst zu malen. Eigentlich wollte ich meine persönliche Geschichte nicht in diese Serie einbringen, aber musste feststellen, dass das nicht möglich ist. Alle diese Arbeiten wurden von meinen persönlichen Erfahrungen inspiriert und geben meinen Blick auf die Welt wieder. Daher machte es nur Sinn ein Selbstbildnis einzufügen. Zu sehen bin ich als Kind, noch in Russland, mit kritischem Blick schaue ich in die Kamera. Hinter mir ist ein Arm zu sehen, das ist der Arm meiner Oma, ein Symbolbild für meine Vergangenheit und die meiner gesamten Familie.

Kowloon Walled City ist ein Slum, der durch den großen Zustrom von Einwanderern nach Hongkong von den 1950er bis Mitte der 1990er Jahre entstand. Ursprünglich befand sich hier eine chinesische Militäreinrichtung, doch schon bald wurde es zu einer gesetzlosen Zone, die weder von China noch von Großbritannien oder Hongkong verwaltet wurde. 33 000 Menschen lebten hier in einer Ansammlung von 12-stöckigen Gebäuden, die auf 0,03 Quadratkilometern Land errichtet wurden. In den blockartigen Gebäuden gab es kaum Tageslicht und im Inneren herrschte zu jeder Tageszeit Nacht. Im Jahr 1993 wurde beschlossen, die Gebäude abzureißen und durch einen großzügigen Park zu ersetzen. Von den ehemaligen Gebäuden ist keine Spur mehr vorhanden.
──Warum hast du überhaupt keinen Pass?
Das ist eine lange Geschichte. Wenn man nach Deutschland ziehen will, braucht man immer einen ‘Einreisegrund’. Bei mir war es so, dass ich acht Jahre alt war und der Grund für meine Einreise war, dass meine Mutter nach Deutschland gezogen war, ich konnte also als minderjähriges Kind einfach mitreisen. Als ich elf war starb meine Mutter bei einem Autounfall. Mit zwölf lief mein Pass ab, und mein Onkel, bei dem ich damals lebte, ging zum russischen Konsulat. Doch man stellte mir keinen neuen Pass aus, mit der Begründung, dass es für mich keinen Grund mehr gäbe, in Deutschland zu bleiben, nachdem meine Mutter tot war. Sie sagten, ich solle zurück nach Russland gehen.
Als wir dem deutschen Jugendamt die Situation erklärten, waren sie auf unserer Seite. Sie meinten, dass Kinder natürlich nicht allein nach Russland zurückkehren können und sie übernahmen den Kontakt mit dem russischen Konsulat, ohne Erfolg. Als ich 20 wurde, bekam ich, trotz dem, dass ich keinen Ausweis hatte, einen deutschen Aufenthaltstitel. Damit konnte ich in die Schengen-Staaten reisen. Eigentlich aber nur in Kombination mit einem Ausweisdokument. Ich befinde mich seit dem in dieser Grauzone.

Ibby E Okinyi war ein Reisender, der ohne Geld und ohne Transportmittel zu Fuß von Oslo, Norwegen, nach Spanien lief. Er verbrannte seinen eigenen italienischen Pass vor einer Polizeistation und sagte: “Ich bin ein Mensch. Ich bin kein EU-Bürger, Afrikaner oder Chinese”.
──Hattest du von Anfang an geplant, deine eigenen Porträts in die Bilderserie einzubringen?
Nein. Vielmehr wollte ich das Thema von Anfang an bewusst konzeptuell bearbeiten und meine persönliche Geschichte dabei ausklammern. Die ersten vier Motive habe ich relativ schnell gefunden, wusste aber lange nicht, was ich als fünftes malen sollte. Es sollte etwas sein, was die Serie sinnvoll ergänzt. Ich habe mit einem Freund über meinem Dilemma gesprochen. Er hat mir geraten ein Selbstbilnis zu malen. Nach langem hadern musste ich einsehen, dass das die einzig richtige Lösung ist.
──Im Vergleich zu den anderen vier Gemälden hat nur das Porträt von dir eine andere Form und lebendigere Farben.
Dieses Gemälde basiert auf einem Foto von mir als Kind, noch in Russland. Hinter meinem Kopf sieht man den Arm meiner Großmutter. Meine Familiengeschichte ist geprägt von Flucht und Wanderung. Manche meiner Vorfahren sind um die ganze Welt gereist, nicht aus Vergnügen, sondern aus der Notwendigkeit heraus - Krieg, Armut, Verfolgung. Auf dem Bild trage ich eine Kette mit einem Kreuz. Diese Kette hat meine Tante für mich gemacht, sie ist beim selben Autounfall verstorben wie meine Mutter. Vor Gott sind alle gleich, unabhängig davon, wer man ist oder woher man kommt.

Selbstporträt der Künstlerin
──Wie waren die Reaktionen der Menschen auf deine Gemälde?
Es war interessant, die Reaktionen sowohl von Menschen mit als auch ohne Migrationshintergrund zu sehen. Eine Mexikanerin sagte zum Beispiel, dass sie wegen der komplizierten Bürokratie in Deutschland immer gestresst sei. Sie habe Angst ihre Post zu öffnen, weil sie fürchtet vorgeladen zu werden und eine Strafe zahlen müssen. Andererseits sagten die Leute, die nie solche Probleme in ihrem Leben hatten, dass sie nie darüber nachgedacht haben, welche Folgen es haben kann ohne Personalausweis zu sein. Ein anders Pärchen erzählte mir von einem Freund, der, wie Ibby, freiwillig ohne Dokumente lebt und seine Bürokratie über einen Verein regelt.
──Was machst du weiter? Was ist dein Traum?
Ich werde praktisch in der Kunstpädagogik arbeiten. Außerdem überlege ich, mir ein Wohnmobil zu kaufen. Ich möchte in Zukunft auf dem Land leben, aber ich weiß noch nicht, wo ich leben will, also möchte ich verschiedene Orte besuchen und darüber nachdenken. Damit ich mir klar werde, wo es mir am besten gefällt. Dafür wäre es nützlich ein Auto zu haben, in dem ich leben kann. Mal sehen wohin es mich treibt.