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KOKO#9 Hier ist langweilig, wir sind frei

Interview mit Karim

#9 Hier ist langweilig, wir sind frei

Interview mit Karim

Einst als "gefährlichste Straße Deutschlands" bezeichnet, hat sich die Eisenbahnstraße in Leipzig zu einer lebendigen Straße entwickelt. Während sich die Stadt rasant verändert, gibt es Menschen, die in ihrem eigenen Tempo und mit einer gewissen Gelassenheit ihren Weg gehen.

Die neunte Folge erzählt die Geschichte von Karim, der sich dem Fluss des Lebens hingab und in Leipzig sesshaft wurde. Er ist für seinen humorvollen Charakter bekannt und beliebt, doch wenn er über die „Freiheit“ dieser Stadt spricht, blitzt in seinen Augen manchmal ein scharfer Glanz auf.

Nicht wenige Menschen erzählen, dass sie durch ein seltsames Schicksal in den Leipziger Osten gezogen sind. Auch Karim, der aus Marokko stammt, erzählte vom ungewöhnlichen Lebensweg: 

"2016 studierte ich an der Kunsthochschule in Rom, aber ich beschloss, an eine andere Hochschule zu gehen, und nahm an einer Prüfung teil. Aber ich hatte nicht bestanden und war enttäuscht. Dann sagte ein Freund, der ebenfalls die Prüfung nicht bestanden hatte: 'Ich fahre nach Berlin, um mich zu erfrischen', und bat mich, ihn zu begleiten. Also stieg ich in ein Auto, nur mit einem kleinen Rucksack. Dann gefiel mir Berlin und ich fing an, dort zu leben und ein paar kleine Jobs zu machen, zum Beispiel als Kellner."

Eines Tages in Berlin besuchte Karim eine Party und trank mit Freunden bis 9 Uhr morgens. "Es war eine typische verrückte Berliner Party. Am Morgen fand ich zufälligerweise 20 Euro auf dem Boden. Ich schaute nach, wie weit ich mit dem Geld fahren konnte, und da war Leipzig", meint er.

Sein ursprünglicher Plan war, nur einen Tag in Leipzig zu verbringen, aber dann erinnerte er sich daran, dass ein Bekannter aus Rom in Leipzig wohnt, und versuchte, ihn zu kontaktieren.

"Ich hatte seine Telefonnummer, aber er war schon lange nicht mehr online, trotzdem habe ich ihm eine Nachricht geschrieben. Genau in dem Moment, als ich die Nachricht schrieb, lief er an mir vorbei!! Dann verbrachte ich mit ihm einen Monat in Leipzig. Ich spielte Fußball, ging an den See. Es gab viele junge Künstler und es gefiel mir sehr gut."

Karim ging dann zurück an die Kunsthochschule in Rom, bewarb sich für ein Austauschprogramm in Leipzig und genoss seine Zeit. Aber eines Tages hatte er einen Unfall und ging nie wieder an die Hochschule:

"Das ist eine dumme Geschichte. Ich hatte tagelang nicht geschlafen und bin auf meinem Fahrrad eingeschlafen. So habe ich mir die Kopfverletzung zugezogen. Es ist seltsam, aber wenn man sich den Kopf stößt, verändert sich etwas".

Karim ist jedoch in Leipzig geblieben, lebt in der Stadt, engagiert sich in der Theater- und Kunst und unterrichtet Arabisch und Französisch. "Ich spreche etwa fünf oder sechs Sprachen, bin in der Community vieler verschiedener Sprachen. Also ich bin sozusagen ein Clown." 

Als wir ihn nach seinen Lieblingsorten in der Stadt fragten, stellte sich heraus, dass einige davon nicht mehr existieren.

“In der Eisenbahnstraße gab es zum Beispiel einen Bauernhof. Man kann kaum glauben, dass es in einer so lauten Straße einen Bauernhof gab, aber dort gab es Pferde, Schafe und Ziegen. Man konnte frische Eier kaufen und Kinder konnten mit den Tieren spielen. Jetzt ist es nur noch eine riesige Baustelle.”

Am Ende erzählt Karim seine Gedanken über die Zukunft der Eisenbahnstraße.

"Was ich an Leipzig mag, ist die Freiheit. Die Idee der 'Freiheit' lässt uns merken, dass wir viel weniger Freiheit haben, als wir denken. Aber es ist natürlich eine Wahnvorstellung zu glauben, dass sich die Dinge nicht ändern. Wie die Zeit, wie das Alter, verändern sich die Dinge. In gewisser Weise ist also alles nur vergänglich. Ich mag das Leben in der Eisenbahnstraße nicht mehr so sehr, wie früher. Aber ich bin nicht so pessimistisch, was die Stadt angeht."